Der Lebensmitteleinkauf im Supermarkt ist für blinde und sehbehinderte Menschen nicht barrierefrei. Es fehlt an Orientierung und Navigation im stationären Handel, aber auch am Zugang zu den Informationen, die auf Verpackungen aufgedruckt sind. Selbst, wenn blinde Menschen sich nach Hause beliefern lassen, ist es schwer, Verpackungen voneinander zu unterscheiden – Konservendosen, Becher, Kartons und Tuben fühlen sich sehr ähnlich an. Wir haben uns mit Meike Seidel, Gründerin von SonicView, zu den Herausforderungen im Alltag sowie technischen Lösungen am Rande des ECR Tag unterhalten.
Ich habe Menschen kennengelernt, die mit Vollblindheit selbständig ihr Leben organisieren und gleichzeitig nicht ihre Lebensmittel selbst einkaufen können, weil der Lebensmitteleinkauf nicht barrierefrei ist. Das fand ich grotesk und ich habe mir in den Kopf gesetzt, das zu ändern. Im Laufe der Zeit bin ich in die Thematik immer tiefer hineingewachsen, fühle mich inzwischen damit verwurzelt und liebe meine Arbeit sehr, weil sie so vielseitig ist. Beispielsweise habe ich habe eine barrierefreie Einkaufs-App für sehbehinderte und blinde Menschen auf den Markt gebracht, die inzwischen kein reines Blinden-Hilfsmittel mehr ist, sondern ein inklusives Werkzeug für alle, die mit dem Kleingedruckten auf Verpackungen hadern.
Seit zwei Jahren leite ich darüber hinaus mit meinem Startup SonicView ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt, bei dem wir (VAGO Solutions, Hochschule Bonn Rhein-Sieg und Petanux) den Lebensmitteleinkauf im Gesamten betrachtet und mit blinden Menschen die Barrieren analysiert haben, um jetzt einen Demonstrator zu entwickeln, der als eine Art digitaler Assistent blinde Personen beim Lebensmitteleinkauf unterstützt.
Ich habe es mit unglaublich vielen verschiedenen Bereichen zu tun - mit Menschen und dem Leitgedanken einer inklusiven Gesellschaft, mit barrierearmer Gestaltung und wahrhaftig gutem Design und mit den neuesten Technologien, die sich gerade so rasend schnell entwickeln.
Wir haben eine riesige Bandbreite an Technologien, die wir sinnvoll einsetzen können, um Gleichstellung innerhalb unserer Gesellschaft zu erlangen. In erster Linie müssen wir meiner Meinung nach alle digitalen Produkte barrierefrei gestalten und entwickeln, so wie wir das bei SonicView mit der SoVi App machen. Die App ist von der ersten Codezeile an barrierefrei, und wir lassen SoVi von blinden Menschen testen, bevor wir eine neue Version veröffentlichen. Es geht aber noch weiter, denn es gibt viele fantastische Technologien, die wir sinnvoll einsetzen können.
Angefangen bei vollflächig unsichtbar codierten Verpackungen, bei denen das mühsame Suchen des Barcodes für blinde Menschen entfällt, über verschiedene Navigationssysteme, die auch in geschlossenen Räumen funktionieren, bis hin zur KI gestützten Objekterkennung. In unserem oben genannten Forschungsprojekt ARGUS verwenden wir einige dieser Technologien für die Indoor-Navigation und die Produkterkennung und zeigen, wie ein sinnvoller und zukunftsweisender Einsatz aussehen kann.
Die SoVi App konnte eine ganze Zeit lang neben dem gängigen Barcode einen vollflächigen, unsichtbaren Code scannen und wir hatten die Hoffnung, dass zunehmend mehr Verpackungen damit versehen werden. In den vergangenen Jahren ist an dieser Stelle jedoch im Lebensmittelbereich zu wenig passiert.
Allerdings greifen wir mit der App auf Daten aus dem Global Data Synchronisation Network (GDSN) zu und ich bin sehr froh, dass es diesen standardisierten, etablierten und gepflegten Datenpool gibt. Natürlich ist unsere Hauptzielgruppe von zuverlässigen Daten abhängig, denn eine blinde Person kann im Zweifel keinen visuellen Abgleich mit den aufgedruckten Informationen machen.
Fehler in den Daten kommen vor, weil diese von Menschen eingegeben werden und weil eine Einheitlichkeit in einem solch komplexen System nicht trivial ist. Jedes Mal, wenn ich solche Fehler in den Daten mit eigenen Augen am Bildschirm sehe, wünsche ich mir, dass die Standards noch weiter vereinfacht werden. Deshalb bin ich seit einigen Wochen auch Teil der „Fachgruppe GDSN“ von GS1 Germany. Ich erhoffe mir, tiefere Einblicke in die Entscheidungen und Entwicklungen des standardisierten Datenpools zu erlangen und zu gegebener Zeit selbst Einfluss zugunsten meiner Hauptzielgruppe nehmen zu können. Es wird also nie langweilig!
Mit dieser App haben Menschen mit eingeschränkter Sehkraft vollen Zugang zu allen Informationen – und gleichzeitig einen treuen Begleiter beim Einkauf von Lebensmitteln, der Arbeit abnimmt und Unabhängigkeit schenkt. Barrierefreiheit im Supermarkt ist möglich.
Viele blinde und sehbehinderte Menschen gehen nicht gerne alleine einkaufen, da der stationäre Handel nicht barrierefrei ist. Supermärkte sind oft unübersichtlich und die Produkte teilweise schwer zu finden. Das wollen wir mit dem Projekt ARGUS ändern.